Fragen über Fragen
Haben Sie sich auch schon bei einem Elterngespräch gewundert, auf welche neue Fähigkeiten und Fertigkeiten der Lehrer oder die Lehrerin Ihres Kindes plötzlich den Fokus zusätzlich noch legt? Wieso ist bei meinem Erstklasskind das Basteln genauso wichtig wie das Schreiben- oder Lesenlernen? Weshalb interesseiert es die Lehrkraft, ob mein Kind "Gspänli" gefunden hat? Und fragen Sie sich auch manchmal, ob durch den neuen Lehrplan das Basiswissen in den Fächern Mathematik und Deutsch (deutsche Rechtschreibung) gar nicht richtig aufgebaut wird?
Kritik am Lehrplan 21
Kritiker des Lehrplans 21 gab es schon bei dessen Entwicklung:
- Der Erwerb von Wissen stehe nicht mehr im Zentrum
- Der Lehrer verkomme zur Randfigur im Schulzimmer und könne seine erzieherische Aufgabe als Vorbild nicht mehr wahrnehmen, da Kinder nur noch selbstbestimmt lernen
- Kinder erwerben nicht mehr nur Wissen, sondern auch Ideologien
Nicht nur von rechter Seite kam Kritik. Auch von der Lehrerschaft wurden bereits die Entwürfe, als zu umfangreich und komplex beschrieben, empfunden. Gemäss einem Beitrag von SRF aus dem Jahr 2014 bemängelten gar Professoren aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften den neuen Lehrplanentwurf. Der emeritierte Pädagogikprofessor Rudolf Künzli sagte dazu:
"Ein Lehrplan ist kein Didaktik-Buch und auch kein Leistungskontrollinstrument für die PISA-Studie!" Moderne Lehrpläne sollten lediglich einen Rahmen abstecken, der zuvor gesellschaftlich und politisch ausgehandelt worden sei. Zudem sei die Harmonisierung in Bezug auf den Umfang der Stundentafeln überhaupt nicht umgesetzt worden.
Tatsächlich haben die Schüler im Kanton St. Gallen auch heute immer noch mehr Stunden pro Woche auf der Stundentafel als die Schüler im Kanton Solothurn. Der Lehrplan 21 ist sicher ein eidgenössisches Mammutwerk und das Lesen und Einarbeiten, in den an Kompetenzen ausgerichteten Bildungskanon, ist mit viel Mühe und Aufwand verbunden.
Dennoch sind sehr viele Überlegungen zu den Fertigkeiten eingeflossen, die eine Generation der Zukunft mitbringen muss, um in der Schweiz Innovation und wirtschaftliche Weiterentwicklung zu gewährleisten. Wer sich mit dem Lehrplan 21 wirklich befasst, wird auch feststellen, dass neuste lernpsychologische Erkenntnisse zum Lernprozess von Kindern sowie auch Ansätze der Reformpädagogik darin aufgegriffen wurden. Der Lehrplan ist sehr detailliert, was die Beschreibung der Fertigkeiten betrifft, aber lässt inhaltlich viele Spielräume. Berücksichtigt werden mussten zudem viele neue zusätzliche Themenbereiche: Verkehrserziehung, Sexualaufklärung und Medienkunde sollen ebenso auf dem Schulprogramm stehen wie Nachhaltigkeit, Gesundheit und die Themen Gleichberechtigung und Menschenrechte.
Was hat sich mit dem Lehrplan 21 geändert?
Früher waren die Lehrpläne nach Schulstufen gegliedert, diese unterschieden sich zudem je nach Kanton. Heute gilt in jedem Kanton ein Drei-Stufen-Prinzip. Der erste Zyklus umfasst den Kindergarten und die 1. und 2. Primarstufe, der 2. Zyklus die 3. bis 6. Klasse und der 3. Zyklus geht von der 7. bis zur 9. Klasse. Jeder Zyklus beinhaltet verschiedene Fachbereiche, die sich über alle Zyklen ziehen können oder beispielsweise erst mit dem 3. Zyklus beginnen. Anstatt der bisherigen Schulfächer gibt es verschiedene Fächergruppierungen.
Hier kann natürlich bemängelt werden, dass dies nicht gerade zur Harmonisierung beiträgt, weil innerhalb der Zyklen viel Spielraum besteht. Andererseits trägt diese Aufteilung der lernpsychologischen Tatsache Rechnung, dass sich nicht alle Kinder gleich schnell entwickeln und daher so unter Umständen mehr Zeit erhalten, Kompetenzen zu festigen und Entwicklungsrückstände aufzuholen.
Die früheren Fächer Physik, Chemie und Biologie fallen nun unter die Rubrik «Natur und Technik». Die Hauswirtschaft fällt unter «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Der bisherige Sportunterricht heisst im Lehrplan 21 «Bewegung und Sport». Die Gruppierung «Natur, Mensch, Gesellschaft» ist aufgeteilt in:
- Natur und Technik
- Wirtschaft, Arbeit, Haushalt
- Räume, Zeiten, Gesellschaften
- Ethik, Religionen, Gemeinschaft
Diese Gruppierungen tragen zu einem fächerübergreifenden und fächerverbindenden Lehrverständnis bei, wie es bereits in der Zeit der Reformpädagogik (ab dem 19. Jahrhundert) praktiziert wurde. Maria Montessori, als eine Vertreterin davon, war es z.B. wichtig, dass die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes in den Mittelpunkt gestellt wird - weg von der reinen Wissensanhäufung, hin zur Entfaltung des im Kinde bereits vorliegenden Potenzials!
Kompetenzorientierung
Die reine Wissensvermittlung steht denn auch im Lehrplan 21 nicht mehr im Zentrum der Bemühungen, sondern die Vermittlung von Kompetenzen, zu denen Wissen, Können und Wollen gehört. Wissen ist aber die Basis für Kompetenz. Man kann nicht kompetent sein, wenn man sich in der Sache nicht auskennt.
Das Wissen bildet also immer noch die Basis, um Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen, dazu kommt dann aber eben auch die Anwendung des Wissens in einer praxisnahen Situation und eine gewisse positiv-offene, aber auch kritisch-hinterfragende Einstellung bezüglich Herangehensweise an eine Thematik. Beispielsweise soll ein Kind sich kritisch mit dem Thema Gleichstellung auseinandersetzen. Natürlich ist Unterricht nie wertefrei, das war schon früher nicht so, und kann nie erreicht werden, da eine Lehrkraft immer auch Mensch ist und eigene Ansichten nicht komplett unterdrücken kann. Der Lehrplan 21 enthält aber keine Aufträge zur Vermittlung spezifischer Haltungen und Einstellungen. Hingegen gehört die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Haltungen und Einstellungen zum Auftrag der Schule. Und die kritische Reflexion über Haltungen und Einstellungen wird vermehrt gefördert, was für den gesellschaftlichen Diskurs eigentlich nur förderlich sein kann. Vor allem im Hinblick darauf, Quellen und Fakten kritisch hinterfragen zu können.
Lehrverständnis
Die Lehrkraft erhält nun eine etwas neue Rolle, da sie zwar immer noch Wissen vermittelt, aber auch begleitend, beratend und unterstützend den Kindern zur Seite steht. Sie ist also mitnichten eine Randfigur, sondern bekommt zusätzliche Aufgaben als Coach, Moderator von Gruppenprozessen, bei der Klassenführung in ungewohnter Umgebung (z.B. Naturexkursionen) etc.. Zudem ist das Berichts- und Beurteilungswesen viel komplexer geworden, da nicht nur vorhandenes Wissen bewertet werden muss, sondern auch Fertigkeiten und Einstellungen der Kinder, die viel schwieriger zu beurteilen und bewerten sind. Eine Note allein reicht da oftmals nicht aus, da die Bewertung von Fertigkeiten und Einstellungen einer Begründung bedürfen, die sich in einer Note meist nicht abbilden lässt.
Viele positive Veränderungen
Als positiv können meines Erachtens folgende Punkte gewertet werden:
- Auswendiglernen ist mehrheitlich einem verständnisorientierten Ansatz gewichen, der in der Praxis verankert wird. So lernen die Kinder Fertigkeiten, die sie im beruflichen Leben auch wirklich einsetzen können.
- Weiter wurde ein grosses Augenmerk auf das Lernen mit allen Sinnen und auf die Integration des Spiels für erlebnisorientiertes Lernen gelegt.
- Dazu gehören auch zahlreiche Exkursionen und das Lernen in der Natur, wie z.B. die Waldmorgen im Kindergarten.
- Die Kinder werden auf die künftigen Anforderungen der digitalen Gesellschaft vorbereitet, indem Medienkompetenz vermittelt wird. Natürlich könnte in diesem Bereich noch mehr getan werden, aber ein erster Schritt ist immerhin gemacht.
- Es wird viel Wert auf Selbständigkeit und Lernen in Teams gelegt, um die sozialen und personalen Kompetenzen der Kinder zu entwickeln und zu fördern.
- Auch der Kreativität, die wichtig ist für das Hervorbringen von Innovation im späteren Wirtschaftsleben, wird mehr Platz eingeräumt.
Deshalb also
Wenn also ein Kind angehalten wird auch im Basteln seine Leistung zu zeigen, wird damit das räumliche Denken, die künftige Schreibkompetenz (Fingerfertigkeit), Kreativität, Imagination und Problemlösungsdenken gefördert. Ein Kind das leicht neue Gspänli findet, zeigt soziale Kompetenz und ist eher teamfähig, als ein Kind, das kaum Kontakt zu anderen Kindern pflegt. Bei allen Zweifeln am Basiswissen der Kinder, die auch mich mitunter beschleichen, dürfen wir nicht vergessen, dass in der Zukunft sämtliches Wissen immer und überall abrufbar ist (das ist jetzt schon mehrheitlich so). Die Kinder müssen also vor allem lernen, dieses Wissen schnell aufzufinden, Quellen zu verifizieren und dann in der Praxis korrekt und schnell anzuwenden sowie in Problemlösungen einzubinden.
Berechtigte Bedenken aus der Wirtschaft
Trotz allen positiven Entwicklungen, fallen aber jetzt schon Lernende im Berufsleben auf, die enorme Mühe mit der Rechtschreibung und Grammatik haben. Einerseits erklärbar, wenn sie an der unteren Skala der geforderten Leistungsziele des 3. Zyklus stehen. Denn das Zyklen-System bietet da mehr Spielraum, aber demnach auch mehr Leistungsgefälle zwischen dem schwächsten und stärksten Schüler. Andererseits fällt mir in der Praxis auch auf, dass die Kinder durch die selbständige und selbsttätige Lernweise die Anzahl Wiederholungen des Lernstoffs und die zu lösenden Aufgaben selbst bestimmen, um den Stoff für Prüfungen vorzubereiten. Dies überfordert meines Erachtens jedoch Grundschulkinder und teils sogar noch Sekundarschüler. Denn sie haben wohl kaum das entwicklungspsychologische und lerntheoretische Hintergrundwissen, wie viele Wiederholungen ein Gehirn braucht, um Gelerntes zu speichern. Zumal es auch gilt, dieses Wissen über die angestrebten Prüfungen hinaus zu speichern, damit es im Berufsleben noch abrufbar bleibt.
Lernziele als Stolpersteine
Weiter werden auch die Lernziele, die in der Praxis den Kindern vorgegeben werden, sehr oft direkt aus dem Lehrplan 21 kopiert, wahrscheinlich weil die Lehrkraft selbst mit der komplizierten Formulierung überfordert ist. Umso überforderter sind dann natürlich auch die Kinder, wenn sie daraus ihren Lernstoff für die nächste Prüfung ableiten sollen. Es fehlt meist an der kindgerechten Übersetzung der Lernziele, bzw. wird von den Lehrkräften nicht sichergestellt, dass die Kinder die Lernziele auch konkret und korrekt verstanden haben. Ich erlebe sogar, dass nicht einmal die Eltern die Lernziele verstehen.
Eltereinbezug und Transparenz
In den ersten drei Klassen fühlen sich viele Eltern zudem zu wenig abgeholt. Da Kinder weniger Hausaufgaben als früher nach Hause bringen, tappen Eltern häufig im Dunkeln bezüglich Leistungen ihrer Kinder. Gemäss aktuellen Studien zeigen die Erkenntnisse zur Wirkung von Hausaufgaben auf, dass diese einen untergeordneten Stellenwert bezüglich Lernerfolg haben. Ich kann mir diese Resultate zwar beim besten Willen nicht vollständig erklären, aber abgeschriebene Hausaufgaben oder solche, die von den Eltern gelöst wurden, erfüllen ihren Zweck natürlich nur bedingt. Trotzdem muss aber auf irgendeine Weise die erforderliche Anzahl an Wiederholungen und entsprechende Übung gewährleistet werden. Ob dies allein im Unterricht für sämtliche Schüler gelingt, das bezweifle ich stark. So fällt denn auch meist erst in der 3. Klasse auf, in der dann endlich mehr Rückmeldungen in Form von Noten den Weg nach Hause finden, dass das Kind Lücken hat oder dem Gros der Klasse überhaupt nicht mehr folgen kann. Da braucht es unbedingt noch eine engere Form des Austausches zwischen Eltern und Lehrern, die genügend transparent über die Leistungen der Kinder auch zwischen den Elterngesprächen informiert.
Fazit: Noch liegt viel Arbeit vor uns!
Es gibt also noch viel zu tun, was die korrekte Implementierung des Lehrplans 21 betrifft. Grundsätzlich ist er ein wissenschaftlich fundierter, bis ins Detail geplanter Bildungskanon, der dem bemühten Lehrer alle Elemente der geforderten Fähigkeiten und Fertigkeiten haarklein erklärt. Allerdings sind viele Lehrkräfte überfordert, diese Elemente aufzuschlüsseln und als Lernziele kindgerecht darzureichen. Ausserdem bleibt der Einbezug der Eltern weitestgehend noch auf der Strecke. Dies gilt zumindest für Eltern, die unser Bildungssystem insgesamt noch nicht so gut kennen oder sprachliche Barrieren zu überwinden haben. Es widerspricht auch dem heutigen Trend zu sehr engagierten Eltern bei der Erziehungsarbeit, die durch den KITA-Besuch ihrer Sprösslinge oft eine sehr detaillierte Rückmeldung der Erzieher über den Tagesablauf gewohnt sind. Es ist toll, wenn Kinder früh selbstständiges Arbeiten erlernen, aber das Informationsbedürfnis der Eltern darf dabei nicht zu kurz kommen. Vielleicht wären da Lerntagebücher oder Lernberichte, wie sie auch die Reformpädagogik teilweise vorsieht, sinnvoll.
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